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Gerald M. Steinberg: Der Angriff von Halle und der neue/alte Antisemitismus

Von Gastautor Gerald M. Steinberg. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Bar Ilan Universität und Präsident des Instituts für NGO-Forschung in Jerusalem.

Meine Mutter wurde in Halle geboren, wo mein Großvater ein kleines Geschäft besaß. Er hatte im Ersten Weltkrieg im Reichsheer gekämpft. Unter den Nazis machte dies für ihn und andere Juden keinen Unterschied. Zusammen mit tausenden anderen jüdischen Kindern wurde meine Mutter von meinen Großeltern nach England geschickt, während ihre Eltern und ihr älterer Bruder in die jüdische Enklave in Shanghai flohen.

‘Ich war wütend, aber nicht überrascht.’

Ich bin Israeli und lebe in meiner alten Heimat, wo ich nicht davon abhängig bin, dass mich Außenstehende verteidigen. In Jerusalem habe ich von dem Nazi-Angriff auf die Synagoge von Halle an Yom Kippur gelesen. Ich war wütend, aber nicht überrascht oder schockiert. Diejenigen, die angeben, schockiert gewesen zu sein, darunter führende Politiker in Deutschland oder der Europäischen Union in Brüssel, sind unehrlich. Wie oft können Juden oder jüdische Ziele in Europa angegriffen werden, bevor das Überraschtsein, der Schock und rituelle Verurteilungen zu leeren Worthülsen verkommen?

Einerseits war der Angriff von Halle die Tat eines einzelnen, verwirrten Individuums, das ein Jahr damit verbrachte, diese Tat des Hasses vorzubereiten. Aber er ist auch Teil eines eiternden, rechtsradikalen Ideologie- und sozialen Netzwerkes mit Verbündeten und Unterstützern in Europa und Nord-Amerika. Die dazu gehörenden Gruppen sind, was ihren Hass und ihre Gewalt angeht, mit Linksradikalen verbunden. Ultra-Rechte und Ultra-Linke verbreiten virulenten Antisemitismus.

Um über den “Schock” und die Verurteilungen hinwegzukommen und diesem Übel effektiv begegnen zu können, müssen all diese Ebenen angesprochen werden, was die deutsche Post-Holocaust-Elite bisher versäumt hat. Deutschland hat Gesetze, die die Leugnung des Holocaust und eine entsprechende Volksverhetzung verbieten. Von ihnen wird aber zu oft kein Gebrauch gemacht, weshalb sie antisemitische Attacken nicht verhindern. Auch hat die Bundesrepublik Deutschland die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) angenommen, deren Inhalt aber nicht umgesetzt.

Kampf gegen Antisemitismus hat niedrige Priorität

Die Juden, die in Halle beteten, wurden durch ein Wunder gerettet und nicht durch die mageren Sicherheitsmaßnahmen vor Ort. Hätten sie nicht schnell reagiert oder wäre das Türschloss der Synagoge beschädigt gewesen, so hätte es ein weitaus größeres Blutbad gegeben. Die Regierung in Berlin muss weitaus mehr tun, um Sicherheit für Juden und jüdische Einrichtungen zu gewährleisten. Was den Bereich des Verfassungsschutzes angeht, müssen ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt, Neo-Nazis und ultra-nationalistische Organisationen intensiv überwacht werden. Wenn es in sozialen Netzwerken oder anderen Bereichen bestimmte Anzeichen gibt, müssen die Behörden sofort handeln, um mehr antisemitische Gräueltaten zu verhindern.

Ein Großteil des Problems hat mit der niedrigen Priorität zu tun, die die erwähnte deutsche Post-Holocaust-Elite, darunter Politiker, Akademiker, Journalisten, Kirchenfunktionäre, Lehrer, Diplomaten und Bürokraten in der Regierung, dem Kampf gegen den Antisemitismus geben. Sie tun gerne so als sei Deutschland nun ein “normales europäisches Land”. Diese Vertreter tragen sogar zur anti-jüdischen Atmosphäre bei, vor allem durch die Dämonisierung Israels als Heimat der Juden. Im heutigen Deutschland sowie in vielen Teilen des ach so liberalen und aufgeklärten Westeuropas ist es populär, anti-israelische Geschichten zu verbreiten. Diese werden dann zu Antisemitismus, der in gewalttätigen Angriffen auf Synagogen und einzelne Juden gipfelt.

Als Reaktion auf Übergriffe durch Palästinenser oder radikale Islamisten gibt es wenig Entrüstung, wie etwa im Jahr 2014, als es zu dem Angriff auf die Synagoge in Wuppertal kam. Tatsächlich urteilte ein deutscher Richter, es gebe “keinerlei Beweise dafür”, dass antisemitische Motive eine Rolle gespielt hätten. Vor ein paar Tagen, nachdem während des Freitagsgebetes ein Mann mit einem Messer vor der Neuen Synagoge in Berlin aufgegriffen wurde, ließ ihn die Polizei erstaunlicherweise wieder frei. Im heutigen Deutschland haben die Behörden ihre Augen so gedreht, dass sie keinen Hass sehen.  

Gleichgültigkeit hinsichtlich Antisemitismus

Es gibt so viele weitere Punkte, die die deutsche Gleichgültigkeit gegenüber den verschiedenen Formen des Antisemitismus reflektieren. Dazu gehören die Unterstützung von Gruppen, die Israel dämonisieren und boykottieren, durch die deutsche Regierung, die Verbreitung der palästinensischen Märchen, in denen Israel fälschlicherweise als Aggressor hingestellt wird und die eine moderne Ritualmordlegende enthalten, die Leichtigkeit mit der Deutschland die genozidalen iranischen Führer hofiert und Geschäfte mit ihnen macht, sowie Berlins Unterstützung für das unmoralische Bashing Israels bei den Vereinten Nationen.

Die politischen Stiftungen aus Deutschland, von denen erwartet werden könnte, dass sie dem Kampf gegen den Antisemitismus in ihren in aller Welt befindlichen Büros eine hohe Priorität einräumen, ignorieren diesen Hass zum Großteil, ebenso wie mächtige kirchliche Organisationen wie etwa Misereor und Brot für die Welt. Stattdessen nehmen sie an der Dämonisierung Israels teil, vielleicht weil es für einige Vertreter einfacher ist, mit unbegreiflichen und unmenschlichen Verbrechen der Geschichte umzugehen, indem sie so tun als seien die Handlungen Anderer, und zwar vor allem die des jüdischen Staates, irgendwie vergleichbar.

Nichts ist vergleichbar. Der deutsche Antisemitismus ist zurückgekehrt. Und er ist nicht mehr “schockierend”.

Die englische Version dieses Kommentares von Professor Gerald Steinberg ist hier zu finden.

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