The Berlin Spectator
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Deutschland liebt Whistleblower – es sei denn, sie sind Deutsche

Deutschland legt eine lange und leidenschaftliche Liebesgeschichte mit den drei einflussreichsten Whistleblowern unserer Zeit an den Tag. Die Begeisterung ist jedoch weniger groß, wenn es um vergleichbare Informanten aus dem eigenen Land geht.

Julian Assange, Chelsea Manning und Edward Snowden wurden von 17 Abgeordneten des Bundestags für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – als Zeichen der Anerkennung ihrer „enormen persönlichen Opfer“. Die Grünen stifteten eine Statue in Bronze der drei Helden; die „Anything to Say?“-Statue wurde erst auf dem Berliner Alexanderplatz und dann auf dem Dresdner Theaterplatz aufgestellt.

Seit Jahren werden Assange, Manning und Snowden im ganzen Land mit Mahnwachen, öffentlichen Protesten, Facebook-Kampagnen, Halloween-Masken, Unterschriftenaktionen und handbemalten Transparenten an Wohnblocks gefeiert und ihrer Aktionen gedacht. Stolz begrüßte Deutschland seinen schnell wachsenden internationalen Ruf als Hotspot und Zufluchtsort für Whistleblower, Hacktivisten, Internet-Radikale und andere Dissidenten. Der Guardian nannte Berlin ein „Refugium“ für „digitale Exilanten“ und bejubelte die dort „wachsende Gemeinschaft von Überwachungsverweigerern“.

Während viele international kontroverse Akteure – und sogar Flüchtlinge – in Deutschland ebenso von der Bevölkerung wie vom Establishment gefeiert werden, kann man das von den heimischen Whistleblowern nicht behaupten.

Die Bundesrepublik hat bislang keine der deutschen Staatsbürger geschützt, Ausnahmen nicht bekannt, die Kriminalität, Korruption oder Risiken für die öffentliche Gesundheit aufgedeckt haben, geschweige denn sie geehrt oder in Bronze gegossen. Keiner der öffentlichen Whistleblower in Deutschland wurde von beruflichen Nachteilen, finanziellen Problemen oder persönlichem Ruin verschont. Anders als bei Assange, Manning und Snowden blieben ihre enormen persönlichen Opfer ungewürdigt und weitgehend unbemerkt.

Nicht nur wurden sie entlassen, deutsche Whistleblower wurden verklagt, schikaniert, öffentlich verleumdet, strafrechtlich verfolgt, und es wurden Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats eingeleitet. Bei einem führte die Polizei eine bewaffnete Hausdurchsuchung durch. Ein anderer wurde Berichten zufolge vergiftet.

Mit einem Land, dessen Verfassung das Recht auf freie Meinungsäußerung verankert, dessen Pressefreiheit weltweit an 13. Stelle von 180 Ländern steht und wo die Polizei den Teilnehmern an Demonstrationen höflich beim Aufhalten des Verkehrs hilft, scheinen derlei Erzählungen über Vergeltungsaktionen gegen Whistleblower geradezu unvereinbar zu sein.

Deutlich nachvollziehbarer werden diese Geschichten gewinnen jedoch angesichts der Tatsache, dass Deutschland laut einer für die EU durchgeführten Forschungsarbeit mit die schlechteste Rechtslage und den schwächsten Schutz für Whistleblower in ganz Europa hat. Deutschland rangiert damit hinter Chile, dem Kosovo, Malaysia, Tunesien, der Ukraine und Sambia.

Sollte Ihnen keiner dieser Fälle bekannt sein, so wäre dies nicht überraschend: Von den Medien wurden die fast alle nur am Rande thematisiert oder gar komplett ignoriert.

Lange Wege zu einer ungewissen Gerechtigkeit

Verglichen mit anderen Ländern Europas fanden viele der deutschen Whistleblower-Fälle deutlich weniger Beachtung in den Medien; darüber hinaus zählen sie im Vergleich zu den langwierigsten und rachsüchtigsten.

Nehmen wir die Geschichte von Brigitte Fuzellier. 2010 belegte sie finanzielle Unregelmäßigkeiten in der Paraguay-Geschäftstätigkeit des Kolpingwerk, einem internationalen katholischen Sozialverband mit Sitz in Köln.

Die deutsche Staatsbürgerin lebt seit 1987 in Paraguay und sagte, das Kolpingwerk habe für Bildungs- und Ausbildungsprojekte in bedürftigen Gemeinden bestimmte öffentliche Mittel aus Deutschland und der EU zweckentfremdet. Eine offizielle Untersuchung bestätigte im Großen und Ganzen, was Fuzellier berichtete. Kolping musste einen Teil der Gelder zurückzahlen, was in den deutschen Medien als öffentlicher Skandal besprochen wurde.

Der deutschen Öffentlichkeit ist jedoch der anschließende, sich über zehn Jahre hinziehende Rachefeldzug fast komplett unbekannt. Kolping und mit der Organisation verbundene Personen ergriffen umgehend Vergeltungsmaßnahmen gegen Fuzellier: Sie wurde entlassen, es wurden falsche Anschuldigungen erhoben, eine Reihe von Klagen und Strafanzeigen gegen sie eingereicht und Richter in Paraguay davon überzeugt, ihr die Ausreise zu verbieten. Nur dank einer internationalen Spendenkampagne, die ihr bei der Zahlung einer Geldstrafe von 27.000 Euro half, blieb sie vom Gefängnis verschont.

Aufgrund der hohen Anwaltskosten hat Fuzellier fast alles verloren. Banken haben mehrere Vermögenswerte beschlagnahmt. Ihr zuvor erfolgreich betriebenes Eco-Loofah-Geschäft, das einst Hunderte von Mitgliedern des Stammes der Macá beschäftigt hatte, wurde zerschlagen. Es gab zwei bewaffnete Entführungsversuche ihrer Tochter durch unbekannte Täter, die noch immer auf freiem Fuß sind.

„Mein Ruf wurde zerstört, meine Finanzen, meine Gesundheit, alles,“ sagte Fuzellier gegenüber der Deutschen Welle. „Jeder normale Mensch hätte unter diesem Stress vermutlich bereits Selbstmord begangen.“

Indes erhält das eng mit der regierenden CDU verbundene Kolpingwerk weiterhin jedes Jahr mehrere Millionen Euro an öffentlichen deutschen Fördergeldern vom Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Noch länger als Fuzelliers Tortur zieht sich der Fall von Andrea Fuchs hin. Während ihrer Tätigkeit als Börsenmaklerin bei der Frankfurter DG-Bank im Jahr 1996 brachte Fuchs Beweise für Insiderhandel und andere verdächtige Aktivitäten rund um einen Aktienhandel im Wert von 200 Millionen Euro zutage. Die DG Bank – Deutschlands zweitgrößte Bank, heute bekannt als DZ Bank – entließ sie nach einem sorgfältig ausgeführten Schikanefeldzug.

Berichten zufolge hat Fuchs rund 50 Gerichtsverfahren und andere Klagen eingeleitet, etwa wegen ungerechtfertigter Kündigung und wegen nicht gezahlten Gehältern und Leistungen. Das Bundesverfassungsgericht wies Fuchs’ Klage im Dezember 2016 mit der Begründung ab, dass ihr Recht auf „Meinungsfreiheit zweitrangig gegenüber den Interessen“ der Bank sei.

Ebenso wenig schützten deutsche Gerichte Brigitte Heinischs Recht auf freie Meinungsäußerung. Ihr Kampf begann 2005, als ihr in einem Berliner Vivantes-Pflegeheim gekündigt wurde, nachdem sie über vernachlässigende Pflege von älteren Bewohnerinnen und Bewohnern berichtet hatte. „Personen wurden nur einmal pro Woche geduscht und lagen manchmal stundenlang in ihren Fäkalien, bevor sie gewaschen und ihr Bett gereinigt wurden,“ sagte Heinisch gegenüber den Behörden.

Bei einer offiziellen Überprüfung der Einrichtung wurden Unterbesetzung, unzureichende Pflege und mangelhafte Dokumentation der Leistungen festgestellt. Heinisch informierte die Manager immer wieder, aber ohne Folgen über die Probleme. Schließlich reichte sie bei der Polizei Strafanzeige ein. Doch als die Staatsanwaltschaft sich weigerte, Anklage gegen Vivantes zu erheben, wurde sie entlassen.

Deutsche Gerichte lehnten ihre Klage wegen ungerechtfertigter Entlassung ab. Heinisch legte in Straßburg beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung ein. Dort wurde ihr 2011 eine Entschädigung von 15.000 Euro zugesprochen und entschieden, dass Deutschland ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt hat. 2012 zahlte Vivantes ihr 90.000 Euro Schadensersatz.

Whistleblower als offizielle Feinde

Nicht nur haben es deutsche Behörden und Institutionen versäumt, Whistleblower zu verteidigen, in mehreren Fällen gingen sie durch Einsatz von Polizei, Staatsanwälten, Richtern und anderen Behörden in die Offensive gegen ihre eigenen Bürger.

Nahezu unbekannt außerhalb des Saarlands ist der Fall des Wildbiologen Dr. Daniel Hoffmann. 2017 entließ ihn das saarländische Umweltministerium und erstattete Anzeige, nachdem er Unregelmäßigkeiten bei der Genehmigung von rund 30 Windkraftanlagen in Lautenbach beanstandet hatte. Hoffmann übergab örtlichen Aktivisten interne Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Anlagen genehmigt wurden, obwohl die öffentliche Anhörungsfrist noch nicht abgelaufen war und die ökologischen Belastungen nicht vollständig beurteilt worden waren.

Ein örtlicher Richter unterzeichnete einen Durchsuchungsbefehl, der zu einer bewaffneten Durchsuchung von Hofmanns Privathaus und dem Heimbüro des Windkraftanlagen-Aktivisten Michael Marx führte. Die Polizei beschlagnahmte einen Computer und auch eine Kamera, mit der ein unbeteiligter Beobachter die Durchsuchungsaktion aufzeichnete, so ein örtlicher Anwalt, der an dem Fall arbeitete.

Mit Hilfe der Vollzugsbehörden wurden auch Aktivisten und Journalisten verfolgt, die Pläne der deutschen Regierung zur Ausweitung der Internetüberwachung publik machten. 2015 erstattete die Berliner Polizei Strafanzeige gegen Markus Beckedahl und Andre Meister von Netzpolitik, der deutschsprachigen Nachrichten-Website zu digitalen Freiheitsrechten und anderen netzpolitischen Themen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Beckedahl und Meister wegen potenziellen Landesverrats, weil sie über den geheimen Haushalt des Bundesamtes für Verfassungsschutz geschrieben hatten.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Informantenfällen in Deutschland sorgte dieser Skandal international für Schlagzeilen und brachte hochrangige Staatsbedienstete in große Bedrängnis. Innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Geschichte entließ Justizminister Heiko Maas Generalbundesanwalt Harald Range.

Tatenlosigkeit der Behörden, Gleichgültigkeit der Medien

Zahlreiche weitere Fälle decken ungenügenden Schutz und geringe Unterstützung inländischer Informanten auf – ebenso wie eine mangelnde Medienberichterstattung, die fast einer Zensur gleichkommt:

  • 2007 entdeckte LKW-Fahrer Miroslav Strecker, dass Rinderaugen, jahrealte Innereien und andere Produkte von Heimtiernahrungsqualität klammheimlich neu etikettiert und als verzehrbares Fleisch verkauft wurden. Firmeninhaber Wolfgang Lermer wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Wenig bekannt ist, dass die Firma sich an Strecker rächte, indem sie ihm unverhohlen unangenehme Arbeitsaufträge erteilte, bis er das Unternehmen schließlich verließ.
  • 2015 erhob ein Angestellter einer staatlichen Kläranlage bei München gegen den Geschäftsführer den Vorwurf von Fehlverhalten, unter anderem habe er Mitarbeiter angewiesen, Bauarbeiten an seinem Haus durchzuführen. Er sagte, das Büro des Geschäftsführers sei prunkvoll dekoriert gewesen, und er habe seine Frau auf Firmenreisen mitgenommen. Die beiden wurden entlassen – ebenso aber auch der Whistleblower.
  • Der Berliner Rettungssanitäter Sascha Lex wurde 2014 fristlos entlassen, nachdem er den Behörden mitgeteilt hatte, dass Rettungsfahrzeuge häufig unsachgemäß desinfiziert und gewartet wurden. Er sagte, ein Frühgeborenes sei möglicherweise wegen fehlender medizinischer Ausrüstung gestorben. Lex reichte beim Berliner Arbeitsgericht eine Kündigungsschutzklage ein. Der Stand seiner Klage ist nicht bekannt.
  • 2016 vermeldeten mehrere deutsche Medien polizeiliche Ermittlungen wegen der mutmaßlichen Vergiftung eines auf dem Flughafen Berlin-Brandenburg beschäftigten Ingenieurs. Journalisten spekulierten, dass der Ingenieur gezielt attackiert wurde, weil er Nachweise für Korruption auf dem skandalumwitterten Flughafen erbracht hatte. Der Name des Mannes wurde nie veröffentlicht.

In einer seltenen öffentlichen Veranstaltung zum Thema äußerten deutsche Amtsträger am 16. März 2015 klar und deutlich, wie sie zum Schutz von Whistleblowern stehen. Bei einer Anhörung im Bundestag waren die Befürworter stärkerer Whistleblower-Rechte den Gegnern zahlenmäßig stark unterlegen. Drei Monate später und bereits zum dritten Mal seit 2009 lehnte die regierende CDU die Maßnahme ab.

Früher oder später muss Deutschland sein zerrüttetes Verhältnis zu Whistleblowern korrigieren. Im vergangenen Oktober verabschiedete die EU eine Direktive, die alle EU-Länder verpflichtet, bis Dezember 2021 Gesetze zum Schutz von Informanten zu erlassen. Deutschland verfehlt diesen neuen EU-Standard bei weitem. Aufgrund der dürftigen Resultate vieler bisheriger Whistleblower-Fälle und in Anbetracht des hartnäckigen Widerstands von offizieller Seite gegen die Stärkung der Whistleblower-Rechte hat Deutschland noch viel Nachholbedarf.

Übersetzung aus dem Englischen: Ingo J. Biermann. Die englische Originalversion dieses Artikels ist hier zu finden.

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